Energiewende im Schatten der digitalen Revolution?
6. Juni 2016 - 10:45 Uhr Max Blatter Energie und Umwelt

Knapp vor der Jahrtausendwende hatte ich mal eine angeregte Diskussion mit einer Persönlichkeit, die sich sehr engagiert für die Energiewende einsetzte. Der betreffende war naturwissenschaftlich gebildeter Akademiker, aber nicht Energiefachmann, und argumentierte etwa so: Schau, welch rasante Entwicklung es in der Informationstechnologie gibt. PC, Handy und all das. Da muss es doch auch möglich sein, innert 20 Jahren die Energieversorgung auf „erneuerbar“ umzubauen!

 

Sein Frust war verständlich. Dabei gab es damals die Smartphones noch nicht einmal. Aber es gibt Gründe für das unterschiedliche Tempo in Informatik und Energietechnik! Und zwar ... doch um das zu erfahren, begleiten wir lieber einen jungen Energietechniker namens Power Guy, der die Hintergründe auch kennenlernen möchte.

 

Power Guy trifft Data Girl

 

Power Guy verbrachte seine Ferien an einem schönen kalifornischen Strand, als er die sportlich aussehende Entwicklungs-Ingenieurin aus dem Silicon Valley traf – nennen wir sie Data Girl. Sie kamen ins Gespräch und bald klagte Power Guy, wie harzig die elektrische Energietechnik sich in Richtung Energiewende weiterentwickle.

 

Data Girl lachte: „Ja, du hast auch allen Grund, mich zu beneiden! – Schau mal!“ Sie kramte in ihrer Tasche, zog ein Tablet hervor, öffnete eine Datei und zeigte Power Guy das folgende Bild (Abbildung 1):















Abbildung 1:    

Oben Halbleiterspeicher (Jahr 2014); Speicherkapazität rund 4 000 000 000 Byte
Unten Magnetkernspeicher (1960er Jahre); Speicherkapazität 400 bit = 50 Byte


„Schau das untere Ding auf dem Bild! Das hat mir jemand gegeben, der diese Zeit noch miterlebt hat: So sahen RAM-Datenspeicher vor einem halben Jahrhundert aus. Kleine Magnet-Ringe, die jeder ein Bit speichern konnten. Ein einziges Bit – eine einzige True-False-Information in etwa einem Kubikmillimeter! – Doch dann kamen die Halbleiterspeicher aus Silizium; da wurde alles immer kleiner und kleiner. Viele Millionen mal kleiner. Bis wir bei den heutigen USB-Sticks angelangt sind. Und es geht noch weiter!“

 

Power Guy seufzte: „Eben! Doch... wie war das möglich? Die Dinger brauchen doch eine gewisse elektrische Leistung – und das dann immer kleiner und kleiner? Das überhitzt doch irgendwann?“

Nope, babe!“ erwiderte Data Girl. „Je kleiner das Ganze, desto weniger Leistung braucht es. Die Physik ist eben auf unserer Seite!“

Power Guy ließ nicht locker. „Aber – die Zuverlässigkeit? Es gibt doch überall elektromagnetische Störfelder: Je kleiner die Leistung, desto störanfälliger?“

Nope, babe! Je kleiner das Ganze, desto weniger Störfelder ‚picken‘ wir auf. Die Physik ist eben...“

„Schon begriffen, lass gut sein...“, gab Power Guy klein bei.

 

Data Girl nahm das Surfbrett, das vor ihr lag. „Ich geh‘ jetzt mal aufs Meer. See you, babe!“ Und weg war sie.

 

Noch einmal seufzte Power Guy. Ja: Surfen auf der perfekten Welle, so kamen ihm die Informatik-Entwicklerinnen vor. Während sich die Energietechniker wie Bergsteiger Schritt für Schritt dahinschleppten. Warum funktionierte das mit der Miniaturisierung bei ihnen nicht? War die Physik denn immer nur gegen sie?

 

Silizium spart Aluminium, Kupfer und Eisen

 

Was sagt denn die Physik tatsächlich dazu? Ja, es gibt physikalische Grenzen in Sachen Materialausnutzung, die man in der Informationstechnologie so nicht kennt.

 

Um beispielsweise elektrische Leistung über größere Distanzen zu übertragen, verwendet man Hoch- und Höchstspannungs-Leitungen. Ihre Leiter bestehen aus Aluminium oder einer Aluminium-Legierung (wegen des kleineren Gewichts und den kleineren Kosten zieht man dies dem eigentlich besser leitenden Kupfer vor). Um eine bestimmte Stromstärke und somit eine bestimmte Leistung übertragen zu können, benötigt man einen bestimmten Mindest-Querschnitt der Leiterseile. Das hängt mit dem elektrischen Widerstand der Leiter zusammen; dadurch entsteht Verlustwärme, die zu schwache Leiter letztlich zum Durchschmelzen brächte.

 

Zugegeben: Es gibt sogenannte Supraleiter, die bei sehr tiefen Temperaturen jeden elektrischen Widerstand verlieren. Aber eben: Diese muss man mit flüssigem Stickstoff auf weniger als −150°C  kühlen (was man dann bereits als „Hochtemperatur-Supraleiter“ bezeichnet – weil die ersten noch weit tiefere Temperaturen benötigten). Ob es je gelingt, „Normaltemperatur-Supraleiter“ zu entwickeln, ist völlig offen; damit kann man derzeit keineswegs rechnen.

 

Oder um die elektrische Leistung auf verschiedene Spannungen zu transformieren – z.B. 380‘000 Volt für die Übertragungsleitungen; 230 Volt / 400 Volt für den Verbrauch – dazu braucht es Transformatoren. Diese besitzen einen magnetischen Kern aus einer Eisen-Legierung und Wicklungen, die meist aus Kupfer bestehen – beides braucht einen gewissen Mindest-Querschnitt, um eine bestimmte Leistung übertragen zu können.

 

Ein bisschen steigern kann man die Leistung bei gleichem Materialaufwand allerdings noch (siehe Abbildung 2): Bei Übertragungsleitungen, indem man von Wechselspannung auf Gleichspannung übergeht (was teilweise bereits getan wird); beim Transformator, indem man ihn mit höherer Frequenz betreibt (was in der Energietechnik noch Theorie ist). Dazu braucht es Gleichrichter, Wechselrichter, Frequenzwandler – darüber gleich mehr!















Abbildung 2:    Aufwand an Alu, Kupfer und Eisen für Übertragungsleitungen und Transformatoren


Gleichrichter, Wechselrichter, Frequenzwandler – zuvor erwähnt – damit kann man die elektrische Leistung in die jeweils optimale „Form“ bringen. Die dazu nötige Leistungselektronik beruht auf Silizium-Halbleitertechnologie: das ist die gleiche Technologie, der wir die digitale Revolution verdanken! Aber auch da muss die Energietechnik Grenzen beachten, die es in der Datenverarbeitung nicht gibt: Um eine bestimmte elektrische Spannung auszuhalten, muss der Silizium-Chip eine Mindest-Dicke haben; um ohne Überhitzung eine bestimmte Stromstärke leiten zu können, braucht er eine Mindest-Fläche. – Allerdings ist der Materialaufwand an Silizium um viele Größenordnungen kleiner als der Aufwand an Aluminium, Kupfer und Eisen für Leitungen und Transformatoren (siehe Abbildung 3).




Abbildung 3:    Materialaufwand an Silizium für leistungselektronische Wandler


Zum Vergleich: Die gesamte Produktionskapazität im europäischen Elektrizitäts-Verbundnetz beträgt gerade etwa 1 TW = 1‘000‘000‘000‘000 Watt: Leistungselektronische Wandler aus nur 1 m³ Silizium könnten also diese ganze Leistung verarbeiten!


Intelligenz spart Speicherkapazität

 

Dann ist da noch die Sache mit der Energiespeicherung! Im Elektrizitätsnetz muss Produktion und Verbrauch jederzeit im Gleichgewicht sein. Ist dies nicht der Fall, muss man entweder schnell regelbare Kraftwerke dazu- oder abschalten, oder aber die Energie muss zwischengespeichert werden (beispielsweise in Stauseen). Aktuell nimmt der Bedarf an Speicherkapazität unter anderem deshalb zu, weil vermehrt stark witterungsabhängige (sogenannt volatile) Energieressourcen genutzt werden, insbesondere Windenergie und Fotovoltaik.

 

Man ahnt es schon: Um eine bestimmte Energiemenge zu speichern, braucht man ein bestimmtes Volumen – ja, was denn nun? Ein Speichermedium eben! Das Wasser im Stausee, das „Innenleben“ einer Akkumulatoren-Batterie oder was immer (siehe Abbildung 4).


















Abbildung 4     Volumenbedarf für die Energiespeicherung in Stauseen und Lithium-Ionen-Akkumulatoren


Zum Vergleich: Der mittlere tägliche Elektrizitätsverbrauch in der Schweiz beträgt etwa 160 GWh = 160‘000‘000 kWh. Um eine Energiemenge in dieser Größe zusätzlich speichern zu können, müsste man 2‘000‘000 m³ Lithium-Ionen-Akkumulatoren verbauen: Dazu bräuchte es ein Gebäude mit einer Innenfläche von 500 m x 500 m und einer Innenhöhe von 8 m!

 

Man kann allerdings auch den Speicherbedarf reduzieren. Zum einen können Energieressourcen mit verschiedenartiger Witterungsabhängigkeit intelligent kombiniert werden: Eine Studie hat gezeigt, dass sich  Sonnen- und Windenergie diesbezüglich sehr gut ergänzen. Zum anderen lassen sich durch den Einsatz intelligenter Informatiksysteme Produktion und Verbrauch zeitlich und geografisch optimal aufeinander abstimmen. Man kommt so zu Entwicklungstendenzen, die unter dem Schlagwort „Smart Grid“ im Gespräch sind.

 

Power Guy und Data Girl sind sich einig

 

Power Guy spürte eine nasse Hand auf seiner Schulter.

Hi, babe! Immer noch deprimiert?“

Nope, babe!“ entfuhr es Power Guy. „Ich meine – nein, Data Girl. Ich glaube, ich habe für meine Probleme eine Lösung gefunden. Eigentlich zwei Lösungen: Silizium und Intelligenz.“

„Klingt vernünftig!“

 

Data Girl trocknete sich leicht ab, schmierte sich mit Sonnencrème ein, legte sich auf den Rücken und schaute Power Guy interessiert an.

„Denkst du auch, was ich denke?“

„Na ja, deine Gedanken kann ich nicht lesen! Aber ich denke jedenfalls...“, begann Power Guy, doch es war Data Girl, die den Satz weiterführte:

„... ich denke, dass wir zusammenarbeiten sollten. Weißt du: Manchmal geht mir in der Informatik alles ein bisschen zu einfach. Fast jeder Gedanke, den man hat, wird von der Umgebung aufgesaugt, in ein paar Wochen verwirklicht und in ein paar Monaten auf den Markt gebracht. Ist einerseits schön, laugt aber auch aus. – Ich sehne mich echt danach, bei der Arbeit ab und zu ein bisschen Widerstand zu spüren. Egal ob von der Physik oder der Politik!“


Schlusswort


Lassen wir Power Guy und Data Girl allein ihre Pläne schmieden! – Doch zu meinem Diskussionspartner von damals, den ich zu Beginn erwähnt habe: Dieser Blog stellt die etwas ausführlichere und vor allem aktualisierte Version der Antwort dar, die ich zu jener Zeit schon in Kurzform gegeben habe. – Ja, in der Energietechnik geht die Entwicklung langsamer voran als in der Informatik-Branche. Aber das liegt nicht an den beteiligten Personen, sondern hat physikalische Gründe. Wo immer es um hohe Leistungen und große Energiemengen geht, entsteht ein beträchtlicher Aufwand an Material, Geld – und Zeit. Das lässt sich nicht vermeiden! Leistungselektronik kann helfen, größere Mengen Aluminium, Kupfer und Eisen durch wesentlich kleinere Mengen Silizium zu ersetzen. Vor allem aber kann man den Aufwand durch Einsatz von intelligenter Informationstechnologie reduzieren und so deren Dynamik für die Energietechnik nutzbar machen. Und doch bleibt die Energiewende ein Jahrhundertprojekt: Zielstrebigkeit ist gefragt, aber auch Geduld und Ausdauer!




Autor

Max Blatter, * 1. März 1954 in Zürich
dipl. El.-Ing. ETH

                                

seit 2010 Dozent für „Elektrische Energietechnik“ im Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen an der Hochschule für Technik FHNW in Brugg/Windisch;
seit 2010 Dozent für „Grundlagen der Energieerzeugung“ im Ausbildungsgang
zur Technikerin / zum Techniker HF Energie und Umwelt am sfb Bildungszentrum in Dietikon/Reppischhof;
seit 2015 Dozent für „Energie Grundlagen“ im Ausbildungsgang
zur Technikerin / zum Techniker HF Energie und Umwelt an der HF Uster.




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